Deutscher Gewerkschaftsbund

11.07.2022

Wir brauchen mehr Wut-Empathie

von Ciani-Sophia Hoeder
Ciani-Sophia Hoeder

Was verdient die Frau? / C. Araadom

Wut hat ein schlechtes Image. Sie wird häufig als ein Synonym für Zerstörung und Destruktivität verwendet. Dabei ist Wut ein Alarmsignal. Ein innerer Kompass, der uns warnt, schützt und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht. Eine essentielle Emotion, die politischen und sozialen Wandel hervorrufen kann. Doch bereits als kleines Kind lernte ich, dass Wut nicht gleich Wut ist. Sie wird unterschieden. Zwar empfinden wir alle diese Emotion, doch je nachdem wie ich aussehe, wird sie anders bewertet. Die Wut von Frauen wird ganz anders beurteilt, als die von Männern. Dabei prägten mich die Erfahrungen meiner Mutter. 

Als ich dreizehn Jahre alt war, war meine Mutter wütend. Ihre Wangen leuchteten in einem sanften karminrot, ihre Stimme wurde energischer, drängender, erbarmungsloser. Meine Mutter stand mit meiner kleinen Schwester und mir in einem Supermarkt. Als alleinerziehende Mutter war das Geld immer zu knapp. Daher überprüfte sie alle Rechnungen und versuchte hier und da etwas zu sparen. An dem Tag entdeckte meine Mutter eine Differenz auf der Rechnung. Ihr wurde zu viel Geld abgezogen. Mit meiner Schwester, mir und dem Einkauf, fragte sie nach. Dabei wurde sie von der Kassiererin ignoriert mit dem Satz, sie solle warten. Wir warteten. Wir warteten zwanzig Minuten. Von Minute zu Minute braute sich die Wutwolke in meiner Mutter auf. Zwischendurch fragte meine Mutter, ob sie es denn schnell klären können, doch die Kassiererin zeigte auf den vollen Laden. Als der nächste Kunde seine Lebensmittel auf das summende Band legte, stellte meine Mutter sich davor und sagte: “Ich möchte mit ihrem Chef sprechen!” Ihre Worte wurden knapp. Sie stieß sie förmlich hinaus. Die Kassiererin rief den Geschäftsführer an und nach einiger Zeit war er da. Es war zu viel. Das warten. Die Kinder. Ihre Wut bahnte sich durch den gesamten Laden und das Gesicht ihres Gegenübers wurde hart, kalt und distanziert. Sie hörten ihr nicht mehr zu. Sie schrie. Die Menschen in dem Geschäft taten sie als irrational, anstrengend und kompliziert ab. Verfielen in eine Abwehrhaltung. Zwar hatte sie recht, doch sie war die laute, hysterische Frau, die sich wegen ein wenig Geld ärgerte. Das war nur eine von vielen Momenten, in denen ich lernte: Frauen dürfen nicht wütend Sein. 

Wir sind traurig, statt unsere Wut zu zulassen

Wenn sie es doch sind, dann sind sie selbst daran schuld. Sie haben zu wenig geschlafen oder gegessen, hatten zu wenig Sex, sind gestresst - Sie sollen sich mal zusammenreißen! Männliche Wut hat einen gesellschaftlich akzeptierten Grund. Einen, den wir breit analysieren. Diese Mechanismen sorgen dafür, dass wir die Wut von Frauen nicht ernstnehmen. Dabei geht es nicht um die eine Frau oder den einen Mann, sondern viel mehr um das soziale Konstrukt dahinter. Die heteronormativen Vorstellungen von ihnen. Es geht darum, dass es ein gesellschaftliches Bild von Frauen mit der Botschaft gibt, dass sie sanft und fürsorglich sein sollen. Wenn sie sich nicht an dieses Protokoll halten, werden sie schnell als irrational und hysterisch bezeichnet. Bei diesem Prozess nehmen wir ihnen die Souveränität, Protest in eigener Sache äußern zu können. 

Ich wusste sehr lange nicht, dass ich wütend war. Traurig. Ja. Aber wütend? Nein. So etwas fühlte ich nicht. Von Kindesbeinen an lernte ich: Trauer ist bei Mädchen sympathischer. Wut hingegen egoistisch. Trauer ist ruhig, wie Wasser, wellig und sanft. Wut brennt alles nieder, ist kompliziert und schwierig. Heute weiß ich, dass ich sehr oft wütend war. Nur habe ich die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und Mädchen verinnerlicht. Ich habe meine Wut unterdrückt. Ich habe mich für sie geschämt. 

Heute weiß ich, dass ich ohne meine Wut nicht das RosaMag gegründet hätte, ein Online-Magazin für Schwarze FLINTA*. Wut hilft mir dabei geniale Kommentare zu schreiben. Sie gibt mir die Energie, um mich politisch gegen Ungerechtigkeiten zu stellen, um aktiv zu werden. Mit ihr bin ich stark. 

Wer wütend sein darf, hat Macht

Wir alle empfinden Wut. Nur wird die Wut unterschiedlich bewertet. Sie wird nicht nur aufgrund des Geschlechts oder der Sexualität unterschieden, sondern auch aufgrund des Phänotyps einer Person, ihren äußeren Merkmalen, wie Körpergröße, Proportionen und Hautfarbe - all das determiniert die Wut-Dimension. Die Portion, die einer Person gewährt wird. Wer dominant aussieht, dem wird Wut eher zugemutet. Als mixed Schwarze Frau, wird meine Wut ganz anders bewertet, als die einer weißen Frau oder die einer dark skinned Schwarzen Frau. Das hat natürlich einen Grund. Wer in unserer Gesellschaft wütend sein darf, ohne soziale Folgen erleben zu müssen, hat Macht, wer sie nicht ausdrücken darf, wird kontrolliert. Wut und Macht sind integral miteinander verknüpft, aber auch, wie viel eine Gruppe für unsere Gemeinschaft Wert ist. Wenn uns eine Person wertvoll erscheint, finden wir es richtig, dass sie wütend ist, wenn sie beispielsweise verletzt wird oder Gewalt erlebt. Ob verbal oder physisch. Wir nehmen ihre Wut ernst. Vielleicht regen wir uns sogar mit auf. Wir empfinden Wut-Empathie. 

Wo Wut sein darf oder nicht, spiegelt den aktuellen Status unserer Gesellschaft wider. Wie wütend sind wir, wenn Menschen vor den Grenzen Europas ertrinken? Wie wütend sind wir, dass Menschen, vor einem Krieg fliehen müssen und unterscheiden wir dabei, ob die Personen weiß, of Color oder Schwarz sind? Wie wütend sind wir darüber, dass jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist? Oder dass etwa jede vierte Frau mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner wird?

Warum sind wir nicht außer uns?

Mit dieser gigantischen Palette von Gründen für Wut, stellt sich nicht nur die Frage, warum wir nicht alle außer uns sind, sondern auch warum es ein gesellschaftliches Verlangen gibt, die Wut von Frauen und vor allem von Menschen mit Mehrfachdiskriminerungen abzusprechen? 

Die bittere Wahrheit ist: Wer nie wütend ist, akzeptiert den Status-Quo. Es legitimiert, dass tief verwurzelte Vorurteile über Race, Geschlecht, Sexualität, Behinderungen, Armut und so vieles mehr überdauern. All die eben aufgeführten Probleme verschwinden nicht durch ein freundliches und ausgeglichenes Lächeln. Wer nicht wütend ist, findet die Welt, wie sie ist, in Ordnung. Es ist die Akzeptanz von Ungerechtigkeit. Die Folge unterdrückter Wut ist Stillstand. 

Mit Wut etwas verändern

Natürlich kann jede Person ihre Wut ausdrücken. Nur muss sie mit den Auswirkungen leben. Es gab historisch Menschen, die trotz der bitteren Folgen, ihre Wut für einen gesellschaftlichen Wandel genutzt haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Ohne Marsha P. Johnson und weiteren Schwarzen und of Color trans Frauen, wäre die Queere-Bewegung mit dem Christopher Street Day und Pride Month nie zu so einer Selbstverständlichkeit, wie wir es heute kennen, geworden. Diese Frauen wehrten sich am 28. Juni 1969 vor dem Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street gegen die Schikanen durch die Polizei. Sie hatten keine Zweifel oder den Raum, sich Gedanken darüber zu machen, wie ihre Wut wohl wirkt. Bei ihnen ging es ums Überleben. Zu jener Zeit wurden trans Frauen auf den Straßen New Yorks nicht älter als 30 Jahre. 

Oder die Schwarze Bewegung in Deutschland. Martin Dibobe war der erste Schwarze Zugführer im Deutschen Nahverkehr. Gemeinsam mit 18 anderen Männern aus den früheren deutschen Kolonien reichte Dibobe, der in Kamerun geboren wurde, im Juni 1919 eine Petition beim Reichskolonialministerium sowie beim Reichstag ein. In dem Dokument verurteilten sie den alltäglichen Rassismus, den sie erlebten. Zudem forderten die Unterzeichnenden, die gleichen Rechte und gesetzliche Anerkennung wie ihre Mitbürger*innen und die Teilhabe am neuen demokratischen System. Sie erhielten nie eine Antwort, allerdings handelte es sich um das erste dokumentierte kollektive Bemühen von Schwarzen Menschen im damaligen Kaiserreich, sich offen gegen Anti-Schwarzen-Rassismus zu positionierten. Der Preis: Martin Dibobe verlor seinen Job und erhielt keine Anstellung mehr. 

Diese beiden Vorfälle haben eines gemeinsam: Je mehr Intersektionen an Diskriminierung eine Person in sich vereint, desto mehr Mikroaggressionen und/ oder Gewalt erlebt dieser Mensch in seinem Alltag. Gleichzeitig möchte die Gesellschaft, dass sie noch netter sind. Sie sollen dankbar sein, ein Teil unserer Gemeinschaft zu sein und nicht auch noch Anforderungen stellen. Das macht die Wut so interessant. Diese vorgefertigten Korrekturrate, wie die “Angry Black Woman”, “die wütende Lesbe” oder “die wütende dicke Frau” gibt es, aus dem Bedürfnis der Kontrolle und einer tiefen kulturell-sozialen Angst. Einer Angst vor Rache. Einer Angst vor echter Gleichbehandlung. Einer Angst vor Veränderung. Wut ist eine essentielle Ingredienz für politischen Wandel.

 Wir brauchen Wut-Empathie!

Das jeder Mensch seines Glückes eigener Schmied ist und dieser neoliberale Gedanke, dass wir alle, alles erreichen können, ist ein Märchen. Wir werden in unterschiedliche Bedingungen hineingeboren. Wir können unseren Lebensweg minimal manipulieren, trotzdem entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft über die Biografien von Menschen. Es dauert bis zu sechs Generationen, bis ich aus der Armut in die Mitte komme. Das ist die Realität, in der wir alle leben. 

Das ist auch der Grund, warum ich für eine Wut-Empathie plädiere. Empathisch zu handeln, bedeutet sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wut-Empathie geht einen Schritt weiter. Es ist das sich mit- ärgern. Hierbei geht es nicht nur, um das “oh, wie schade”, sondern das “wie kann ich mit anpacken?”. Da Wut und Macht integral miteinander verbunden sind, brauchen wir Unbetroffene, die sich für Betroffene stark machen. Denn wenn die Wut von der einen Hälfte ernster genommen wird, als von der anderen, kann die eine mehr mit ihrer Wut bezwecken als die andere. Es ist ein Privileg wütend sein zu können, ohne Angst zu haben, den Job zu gefährden, Gewalt zu erfahren oder die Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Diese Freiheit sollte jeder Mensch auf der Welt haben. Aktuell ist das noch nicht der Fall. Deshalb sollten wir füreinander mitdenken, mitfühlen und vor allem mitwüten. 

Eine Welt, in der Individuen sich nicht nur über ihre eigenen Belange ärgern, sondern sich auch für die Bedürfnisse von anderen einsetzen, ist wahrhafte Fürsorglichkeit. Wir sind erst frei, wenn alle frei sind. Erst, wenn jede Person in unserer Gesellschaft auf Diskriminierung oder Gewalt hinweisen kann, ohne das sie als inhärent irrational oder als viel zu emotional stigmatisiert wird, leben wir in einer gerechteren Welt. 

Wenn Frauen und weiblich gelesene Personen allein wütend sind, werden sie nicht ernst genommen. Sind sie es in einer Gruppe, können sie Berge versetzen. Ohne die gemeinschaftliche und kollegiale Wut, könnten wir heute nicht wählen, politische Ämter einnehmen oder ein eigenes Bankkonto eröffnen. Wut kann, wenn sie richtig kanalisiert wird, die Welt verändern. Sie kann ein Katalysator sein, ein Motor.

Warum also nutzen wir diese Kraft nicht? 

 

Ciani-Sophia Hoeder

Megan Vada Hoeder

Diesen Text trug Ciani als Keynote Speakerin an unserem Netzwerktag 2022 vor.