DGB / Judith Müller
Dieser Beitrag erschien zunächst in der Gegenblende.
Obwohl Deutschland seit nunmehr 16 Jahren von einer Frau regiert wird, löste die erste grüne Kanzlerinnenkandidatur politische Debatten aus. Schon in den ersten Wochen nach der Nominierung von Annalena Baerbock zeigt sich, dass Deutschland noch ein Sexismusproblem in der Politik und der medialen Berichterstattung hat. Immer wieder werden Frauen in der Politik als Quotenfrau diffamiert, ihre Kompetenzen bezweifelt und ernsthaft die Frage aufgeworfen, ob sie Familie und den Beruf denn vereinen können. Antifeministische Angriffe im Netz stehen ohnehin auf der Tagesordnung. Ein Beitrag über all die Dinge, die wir im Wahlkampf nicht mehr (hören) wollen!
"Irgendwie steht jetzt doch ganz blöd im Raum, Sie seien's nur geworden, weil Sie ‘ne Frau sind. Kriegen Sie das noch abgeräumt?" Diese Frage von Anne Will an Baerbock offenbart, wie es um das Bild von Frauen in Führungspositionen steht. Kaum ist Baerbock als Kandidatin verkündet, häufen sich Schlagzeilen wie: "Er überlässt seiner Co-Parteichefin die Bühne und die Kanzlerkandidatur" (Tagesspiegel). Aussagen dieser Art suggerieren, Robert Habeck hätte Baerbock den Platz im Rampenlicht großzügig abgetreten – er habe verzichtet. Isabel Rohner stellt in dem Podcast "Die Podcastin" jedoch zu Recht fest: Verzichten ist nur möglich, wenn ein Anspruch vorliegt. Den Anspruch auf das Kanzleramt hatten beide gleichermaßen. Die Aussagen offenbaren, wie tief patriarchale Machtansprüche in unserer Gesellschaft noch immer verankert sind und reproduziert werden.
"Natürlich hat die Frage der Emanzipation eine Rolle gespielt, aber der alleinige Grund war es nicht gewesen", entgegnet Baerbock auf Anne Wills Frage. Sondern auch: „Durchsetzungsfähigkeit, Entschlossenheit, aber eben auch Empathie, Menschlichkeit, ein Blick für die unterschiedlichen Menschen in diesem Land und vor allen Dingen ein klarer Kompass, wie wir dieses Land erneuern. Und all das bringe ich mit."
Trotz dieser klaren Antwort und ihrer offenkundigen Kompetenz halten sich in der öffentlichen Debatte sexistische Vorurteile. Das Schicksal teilt sich die Grünen-Chefin mit anderen weiblichen Führungspersönlichkeiten. Dass eine Quote für Führungspositionen nötig ist, zeigt nicht nur ein Blick in deutsche Vorstände und Aufsichtsräte, sondern auch in die Parlamente.
Das Bild der Abgeordneten ist in den Köpfen der Gesellschaft immer noch männlich, weiß und alt. Wer anders ist, muss sich rechtfertigen. Immer wieder berichten insbesondere junge und weibliche Abgeordnete, dass sie in ihrer Rolle nicht ernst genommen und diffamiert werden. Gyde Jensen, jüngste Ausschussvorsitzende im Deutschen Bundestag, erzählt in der Dokumentation "Yes she can", wie sie regelmäßig für die Mitarbeiterin, und nicht für die Abgeordnete gehalten wird. Bundestagsabgeordnete wie Jospehine Ortleb, Emmi Zeulner oder Claudia Roth schilderten vergangenen September in der Zeit ihre Erfahrungen mit Sexismus im Bundestag. Dies alles sind laut den Abgeordneten keine Einzelfälle, insbesondere seit dem die AfD im Parlament sitzt. Zuletzt wurde unter dem Hashtag #Göre Luisa Neubauer bei Twitter diffamiert.
Ständig wird die Kompetenz von Frauen in Frage gestellt, werden sie abgewertet, indem man ihnen Unerfahrenheit, Emotionalität, Schwäche und geringe Durchsetzungsfähigkeit zuschreibt. So werden alte Geschlechterstereotype manifestiert und die Betroffenen verunsichert. Langfristig verhindert dies vor allem Repräsentanz von Frauen in der Politik.
Auch Baerbock kann davon ein Lied singen. Zuletzt wurden Unklarheiten über ihren Bachelorabschluss gestreut, woraufhin der Sprecher der Grünen Belege ihres Vordiploms veröffentlichte. In den Kommentarspalten der sozialen Medien wird trotz der Veröffentlichung deutlich, dass selbst Belege die Infragestellung ihrer Kompetenz nicht stoppen können. Denn diese beruht nicht auf Fakten, sondern frauenverachtenden Denkmustern.
"Herr Laschet, wie würden Sie die Aufgaben als Kanzler mit der Familie vereinbaren?", fragt die Autorin Mia Latkovic in einem Post auf Instagram und stößt damit eine Debatte in den sozialen Netzwerken an. Denn neben der allseits beliebten Frage nach der Quotenfrau und ihrer Kompetenz, darf Baerbock sich überraschend oft mit Fragen zu ihrer Rolle als Mutter auseinandersetzen.
"Sie selbst sind Parteivorsitzende und haben zwei kleine Kinder. Ist es einfacher geworden, Kinder und Karriere zu verbinden?", fragt die Zeit. An dieser Frage ist grundsätzlich nichts verkehrt, würden eben auch Väter wie Armin Laschet nach ihren Familienaufgaben gefragt werden. Diese Frage bleibt im Wahlkampf jedoch den Frauen vergönnt, denen damit die Hauptverantwortung für die Vereinbarkeit zugeschrieben wird.
Mit Blick auf die bestehende geschlechtsspezifische Sorgelücke in Deutschland wäre es durchaus spannend, die Väter in der Politik zu ihren Vereinbarkeitsstrategien zu befragen. Wenn jedoch immer nur weibliche Abgeordnete wie Baerbock hierzu Stellung beziehen müssen, bleibt Sorgeverantwortung Frauensache.
Bei diskriminierenden Fragen bleibt es nicht. Seit ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin haben Hassangriffe im Netz gegen Baerbock stark zugenommen. Die Politikerin steht mittlerweile unter Personenschutz. Die Angriffe im Netz nehmen gezielt Frauen in der Politik ins Visier und stammen laut HateAid-Geschäftsführerin von Hodenberg häufig von Männern aus der konservativen, rechten oder rechtsextremen Szene. Wissenschaftler:innen bezeichnen die bewussten Falschmeldungen über Frauen als geschlechtsspezifische Desinformation, die gezielt Schaden anrichten soll. Über Baerbock wurden in die letzten Wochen vielfach Falschaussagen verbreitet: Sie plane ein Haustierverbot oder die Abschaffung der Witwenrente.
Auch Fake-Nacktbilder tauchten zuletzt von der Grünenchefin auf. Das in den sozialen Medien verbreitete Fake-Bild wurde vielfach mit sexualisierten und frauenverachtenden Aussagen kommentiert. Dieser geschlechtsspezifische Aspekt der Hassnachrichten im Netz ist Ausdruck von einem Antifeminismus, der nicht nur in rechten Strukturen verbreitet ist.
Bereits eine ARD-Studie von 2019 zeigte, dass 87 Prozent der weiblichen Abgeordneten mit Hate Speech im Netzt konfrontiert sind. Dazu gehören auch Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. In einer report München Umfrage gaben 11 Prozent der Politiker:innen an, durch die Bedrohung im Netz ans Aufhören zu denken. Der Hass gegen Politiker:innen wächst – gegen alle Geschlechter. Frauen sind davon allerdings besonders häufig betroffen. Mit dem Begriff "Silencing" wird das Phänomen beschrieben: Personen verstummen aufgrund von Angst vor Bedrohungen im Netz. Ein Verstummen weiblicher Politiker:innen durch zunehmende geschlechtsspezifische Desinformation, Sexualisierung, Hate Speech und Bedrohung wäre fatal für die demokratische Kultur.
Wahlkampf lebt von der Debatte. Politiker:innen müssen sich mit Fragen um Inhalte und ihre Person auseinandersetzen – das ist gut und richtig. Die letzten Wochen zeigen jedoch, dass Politik und deren mediale Aufbereitung ein tiefgreifendes Sexismusproblem hat. Für einen fairen Wahlkampf dürfen nicht Geschlechterstereotype die politische Berichterstattung leiten. Wir brauchen neue Fragen und antidiskriminierende Haltungen statt der Reproduktion von frauenfeindlichen Denkmustern in Berichterstattung, Diskussionsrunden und Parlamenten.
Die antifeministischen Angriffe im Netz sind Folge frauenfeindlicher Denkmuster und schon lange keine Randerscheinung mehr. Es bedarf klarer Stellungnahmen gegen die Diffamierung von Frauen in der Politik sowie Schutz- und Sanktionsmaßnahmen gegen Hassangriffe und Fake News. Wahlkampf? Ja bitte – aber anders!
DGB / Judith Müller
ist seit März 2021 Praktikantin in der Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familienpolitik der DGB-Bundesvorstandsverwaltung. Im Rahmen ihres Praktikums unterstützt sie auch das Projekt "Was verdient die Frau? Wirtschaftliche Unabhängigkeit!". Sie studiert Politikwissenschaften und Soziologie (Bachelor). Davor schloss sie ein Bachelorstudium der Sozialen Arbeit ab. Neben dem Studium arbeitet sie als Sozialarbeiterin einer internationalen Klasse.