Deutscher Gewerkschaftsbund

Gleichstellung ist eine Frage der Gerechtigkeit

von Judith Müller

Judith Müller

DGB / Judith Müller

Dieser Beitrag erschien zunächst in der Gegenblende.

Wie viel Gleichstellung steckt in den Wahlprogrammen 2021? Meist nicht genug. Gleichstellungspolitische Forderungen muss man in Wahlprogrammen oft mit der Lupe suchen. Die bestehenden Gender Gaps, pandemiebedingte Retraditionalisierung und Sexismus im Wahlkampf zeigen: Es muss sich etwas ändern!

Die Parteien nähern sich gleichstellungspolitischen Vorhaben in ihren Programmen auf sehr unterschiedliche Weise. Die CDU/CSU bespricht frauenpolitische Vorhaben in einem knappen eigenständigen Kapitel und meist im Zuge von Familienfreundlichkeit. Die FDP ruft indes einen "liberalen Feminismus" aus, bei dem der Fokus auf der Selbstbestimmung aller Individuen liegt. Die konkrete politische Ausgestaltung wird eher vereinzelt und in keinem eigenen Kapitel behandelt. Die SPD beschäftigt sich mit Gleichstellung sowohl in einem eigenen Kapitel als auch als Querschnittsthema. Geschlechtergerechtigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe soll bis zum Jahr 2030 erreicht werden.

Die SPD plant eine geschlechtergerechte Haushaltspolitik

Die Linke bespricht umfassend gleichstellungspolitische Fragen in einem eigenen Kapitel und auch als Querschnittsthema. Laut ihrer Ansicht verändert feministische Politik die Geschlechterverhältnisse an der Wurzel. Bündnis 90/Die Grünen wählen ebenfalls die Verbindung aus eigenständigem Kapitel und Querschnittsaufgabe. Dabei fordern sie intersektionale Ansätze und die Verantwortung aller Bürger*innen ein.  

Soweit so gut. Doch welche Lösungen bieten die Parteien in der Bundestagswahl 2021 konkret an? Ein Blick in ihre Programme zeigt: zu wenig!

Die Anliegen von Frauen wurden in der Politik kaum berücksichtigt während der Corona-Krise. Es fehlte an Vorschlägen zu einer geschlechtergerechten Haushalts-, Finanz- und Investitionspolitik, um in der Krise Ungleichheiten zu überwinden. In ihren Programmen für die nächste Legislaturperiode formulieren zwar alle Parteien den Bedarf, Gleichstellung zu fördern. Wie sie das genau tun wollen, verraten einige aber noch nicht.

Die CDU/CSU plant, die Situation von Frauen in allen Politikfeldern in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls nachsteuern. Dabei ist offensichtlich: Es gibt Defizite – es muss also nachgebessert werden. Die FDP bezieht trotz "liberalem Feminismus" keine Stellung zu geschlechtergerechten Haushalts-, Finanz- und Investitionsentscheidungen. Da schreiten andere mutiger voran. Die SPD plant eine geschlechtergerechte Haushaltspolitik, Vergabekriterien bei öffentlichen Beschaffungen sollen auf Gleichstellung ausgerichtet sein, nationale und europäische Gleichstellungsstrategien konsequent umgesetzt werden.

Die Linke verspricht ein Gender-Budgeting, mit dem die Sozial- und Haushaltspolitik geprüft werden soll. Die Grünen verfolgen dieselben Ideen wie Linke und SPD, ergänzt um einen Gender-Check für Maßnahmen und Gesetze. Der Wille ist da. Doch gelungene Gleichstellungspolitik wird sich an Ergebnissen messen lassen müssen. Wer jetzt noch keine Vorstellung von möglichen Instrumenten hat, ist nicht besonders glaubwürdig.

Frauen leisten immer noch den Großteil der Sorgearbeit und stecken dafür im Erwerbsleben zurück. Für echte Gleichstellung muss Erwerbs- und Sorgearbeit endlich zwischen Frauen und Männern gerecht verteilt werden.

Auch die Grünen greifen viele gewerkschaftliche Forderungen auf

Die CDU/CSU setzt dafür unter anderem auf familienfreundliche Zeitwertkonten, Ausweitung der Partner*innenmonate beim Elterngeld und bedarfsgerechte Betreuungs- und Pflegeangebote. Klingt gut. Wenngleich fraglich bleibt, wie schnell wir in diesem Tempo am Ziel ankommen.

Die SPD ergänzt den notwendigen Ausbau der Brückenteilzeit und möchte Gewerkschaften im Kampf für eine Absenkung der Arbeitszeit unterstützen. Ihr "Vier-Säulen-Modell für mehr Familienzeit" umfasst nicht nur eine Ausweitung der Partner*innenmonate und eine Familienpflegezeit mit einer Entgeltersatzleistung für erwerbstätige Pflegende, sondern auch eine bezahlte zweiwöchige Elternschaftszeit für Väter und Co-Elternteile. Sie soll die faire Verteilung von Familien- und Hausarbeit begünstigen. Die SPD schreibt erneut den Ganztagsanspruch im Grundschulalter fest, auf den sich kürzlich Bund und Länder geeinigt haben.

Dem schließt sich die FDP an und stellt Kinderbetreuung schon ab Ende des Mutterschutzes in Aussicht. Kritiker*innen könnten der FDP vorwerfen, dass Liberalisierung nicht automatisch zu mehr Gleichberechtigung führt. So bedeutet „Flexibilität von Arbeitszeiten“ bei der FDP eine Wochenhöchstarbeitszeit statt einer Tageshöchstarbeitszeit. In der Praxis gefährdet dies nicht nur die Gesundheit, sondern geht auch zu Lasten von Personen mit Betreuungsaufgaben und führt zur Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben. Die Linke strebt stattdessen ein neues Normalarbeitsverhältnis als kurze Vollzeit mit 30 Wochenstunden an. Wie dies gelingen soll, bleibt offen. Ihr Programm kündigt darüber hinaus vielfältige Vorhaben an, vom Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle bis zur solidarischen Pflegevollversicherung.

Auch die Grünen greifen viele gewerkschaftliche Forderungen auf, darunter flexible Arbeitszeitkorridore, Ausbau hochwertiger Kita- und Ganztagsbetreuung, konkrete Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige. Dabei wird nicht an neuen Begriffen gespart. Aus dem Elterngeld wird die KinderZeitPlus mit einer Ausweitung auf 24 Monate, davon acht exklusiv für jeden Elternteil und acht zur freien Verteilung. Mit einer PflegeZeitPlus sollen pflegende Angehörige finanziell unterstützt werden, wenn sie ihre Arbeitszeit reduzieren.

Die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen hat die scheidende Bundesregierung entgegen ihrem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nicht auf den Weg gebracht. Das wollen die Parteien mit der neuen Legislaturperiode ändern. Laut den Programmen von CDU/CSU und FDP sollen haushaltsnahe Dienstleistungen steuerlich stärker berücksichtigt werden, was allerdings Menschen mit höheren Einkommen deutlich bevorzugt. SPD und Bündnis 90/Die Grünen setzen auf eine direkte Förderung und neue rechtliche Regelungen, die zusätzlich Schwarzarbeit bekämpfen sollen.

Hinsichtlich der Vorhaben für mehr gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben fehlen mutige Maßnahmen vollständig. Nicht nur das zähe Ringen um das Führungspositionengesetz II (FüPoG II) zeigt: Der Gegenwind ist stark, wenn es um gleiche Chancen am Arbeitsmarkt für Frauen geht.

SPD, Linke und Grüne fordern Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände

In ihrem Wahlprogramm nennen CDU und CSU wichtige Bausteine für eine geschlechtergerechtere Arbeitswelt. Sie wollen mobiles Arbeiten und Frauen im MINT-Bereich fördern, die Lohn- und Rentenlücke beseitigen, Aus- und Weiterbildung stärken. Die konkrete Ausgestaltung dieser Vorhaben bleibt offen. Zudem sollen Minijobs nicht in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführt werden, sondern deren Verdienstgrenze von 450 Euro auf 550 Euro erhöht werden. Das Entgelttransparenzgesetz wollen die Christdemokrat*innen evaluieren und nur bei Bedarf überarbeiten. Dass eine Evaluation bereits in der zu Ende gehenden Legislaturperiode die mangelnde Wirksamkeit des Gesetzes belegt hat, ignorieren die Unionsparteien.

In Bezug auf Quoten und Führungspositionen nennen sie nur die Umsetzung der gleichberechtigten Teilhabe im öffentlichen Dienst bis 2025, die bereits Gesetz ist. Auch die FDP bietet eine Vielzahl von Vorhaben an: Aufwertung sozialer und personennaher Dienstleistungen, Teilzeitfortbildungen und Förderung von Frauen in MINT-Berufen. Doch offenbart der „liberale Feminismus“ hier erneut seine grundsätzliche Haltung:  Statt auf Sanktionen baut die FDP auf Freiwilligkeit. Doch: Reichen Ideen wie „Jobsharing“ für mehr Frauen in Führung aus? Ohne Quote passiert meist nichts, wie ein Blick in die Führungsetagen verrät.

SPD, Linke und Grüne wählen einen anderen Ansatz und fordern Quotenregelungen für Aufsichtsräte und Vorstände. Weiterbildung und mobiles Arbeiten wollen alle drei erleichtern, die Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz modernisieren und Frauen in MINT-Berufen fördern. Minijobs sollen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführt und das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickelt werden. Mit Ausnahme der Union fordern die Parteien eine Aufwertung von frauendominierten Branchen und eine gendersensible Berufsberatung. Zudem wird die Wirksamkeit von Tarifvereinbarungen bekräftigt und die Bedeutung einer leichteren Allgemeinverbindlichkeit hervorgehoben.

Aus gewerkschaftlicher Sicht ist die zukünftige Bundesregierung gefordert, konsequente Lösungen für die bestehenden Ungleichheiten zu verfolgen und entsprechende Maßnahmen verbindlich umzusetzen. Die Rente ist der Spiegel der Teilhabe am Erwerbsleben. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke liegt derzeit bei 53 Prozent. Was wollen die Parteien dagegen tun?

Die Unionsparteien planen Kindererziehungszeiten in der Rente besser anzuerkennen und kleinere Renten aufzustocken. Die gesetzliche Rente soll jedoch nicht gestärkt, das Rentenniveau nicht stabilisiert oder angehoben werden. Das Rentenalter bleibt unerwähnt. Angesichts der großen Bedeutung, die die gesetzliche Rente für die Alterssicherung von Frauen hat, lässt dieser Ansatz nicht auf eine Überwindung der Rentenlücke hoffen. Die Grünen und die SPD wollen eine geschlechtergerechte Rente fördern, die gesetzliche Rente stärken und das Rentenniveau von mindestens 48 Prozent dauerhaft halten. Die Grünen planen zudem die Grundrente zu einer finanziell besser ausgestalteten Garantierente weiterzuentwickeln. Die Linke will das Rentenniveau sogar auf 53 Prozent anheben und Zeiten der Kindererziehung und der Pflege höher bewerten. Die FDP möchte indes die bisherige Altersvorsorge um eine gesetzliche Aktienrente und ein Altersvorsorge-Depot ergänzen. Ob davon wirklich Frauen profitieren, bleibt fraglich. Zumal die FDP auch das Renteneintrittsalter flexibilisieren möchte, was eher den Effekt einer Rentenkürzung durch die Hintertür hätte.

Für eine geschlechtergerechte Rente muss die gesetzliche Rentenversicherung als zentrale Säule ausgebaut, das Rentenniveau stabilisiert und Erziehung- und Pflegezeiten besser angerechnet werden – jenseits der Stärkung weiblicher Erwerbsbiographien.

CDU/CSU und die FDP halten noch immer am Ehegattensplitting fest

Das Ehegattensplitting und die Steuerklassenkombination III/V werden seit Jahren von Gleichstellungsexpert*innen, Verbänden und Gewerkschafter*innen als Fehlanreize im Steuersystem kritisiert. Gewerkschaften fordern seit Jahren Steuergerechtigkeit, die Alleinerziehende besser berücksichtigt, Partnerschaftlichkeit fördert und niedrige und mittlere Einkommen entlastet.

Unbeeindruckt halten die CDU/CSU und die FDP am Ehegattensplitting fest. SPD und Grüne dagegen wollen das Splittingverfahren für neu geschlossene Ehen abschaffen. Die Linke plant die komplette Abschaffung mit Übergangsfristen.

Familien und Alleinerziehende will die CDU/CSU durch höhere Entlastungsbeträge unterstützen. Die FDP will dies durch Steuergutschriften und höhere Freibeträge schaffen. Die SPD verspricht niedrigere und mittlere Einkommen zu entlasten und dafür die oberen fünf Prozent stärker in die Pflicht zu nehmen. Wie die Linke und die Grünen fordert auch die SPD eine Kindergrundsicherung. Die Linke setzt auf familien- und geschlechtergerechte Steuermodelle, Individualbesteuerung und ein frei übertragbares Existenzminimum. Höhere Einkommen will sie ebenfalls deutlich stärker besteuern. Auch Bündnis 90/Die Grünen kündigen eine individuelle Besteuerung mit einem übertragbaren Grundfreibetrag an. Nach ihrem Willen soll die Steuerklasse V soll abgeschafft und der Spitzensteuersatz moderat angehoben werden. Die zukünftige Bundesregierung ist dazu aufgefordert, falsche Anreize endlich abzuschaffen, sonst bleibt das Ziel der tatsächlichen Gleichstellung in weiter Ferne.

Gewalt an Frauen ist kein Randphänomen, sondern bitterer Alltag in Deutschland. Verbände wie der Deutsche Frauenrat formulieren klare Ansprüche an eine zukünftige Bundesregierung, um Gewalt an Frauen zu verhindern. Das unterstützen auch Gewerkschaften, die besonders für die Umsetzung und Ratifizierung der wichtigen ILO-Konvention Nr. 190 zur Beseitigung sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz eintreten. Diese Forderung findet sich lediglich im Programm der SPD wieder. Gerade weil die Gewalt an Frauen in der Pandemie zugenommen hat, darf die zukünftige Bundesregierung hier nicht untätig bleiben.

Mit der Umsetzung der Pläne und Vorhaben aus den gleichstellungspolitisch orientierten Programmen, kämen wir der gleichberechtigten Teilhabe von Männern und Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schon ein ganzes Stück näher – vor allen dann, wenn sie in der Umsetzung aufeinander abgestimmt und in einer echten und nachhaltigen Gleichstellungsstrategie verzahnt würden. Wir haben am 26. September 2021 in der Hand, wer bei dieser wichtigen Aufgabe in den nächsten Jahren den Hut aufhat.

 


Die AfD wird in diesem Beitrag bewusst nicht mit den demokratischen Parteien verglichen, da dies zu einer Verharmlosung ihrer völkisch-autoritären Positionen und ihren im Kern demokratiefeindlichen Strategien und Handlungen beitragen kann. In der DGB-Studie "Die AfD vor der Bundestagswahl 2021" werden das Familien- und Frauenbild der AfD beleuchtet.

DGB / Judith Müller