Lea Wessels
Das Einchecken in einer Ferienwohnung verläuft mittlerweile eigentlich immer gleich: Ankunft, Small Talk, Schlüsselübergabe. Tür auf, Sachen abstellen, kurzer Kameracheck. Hinterm Vorhang, in Schubladen, im Badezimmer. Alles wird einmal kurz inspiziert, denn: sicher ist sicher.
Seit dem Bekanntwerden verschiedener heimlich aufgenommener Videos von weiblich gelesenen Personen auf Dixi-Toiletten, in Airbnbs oder Umkleideräumen, die im Anschluss auf Pornoseiten hochgeladen wurden, gibt es eigentlich kaum mehr öffentliche Räume, in denen ich nicht mindestens einmal kurz über potentiell versteckte Kameras nachdenke. Dabei ist bildbasierte Gewalt, also das heimliche Veröffentlichen von intimen Videoaufnahmen oder Bildern auf Pornowebsiten nur eine Form digitaler Gewalt, mit der FLINTA* wie ich nahezu täglich konfrontiert sind.
FLINTA* steht für Menschen, die sich als Frauen, Lesben, inter, nicht-binär, trans und agender identifizieren.
Hate-Speech, Doxing oder die Nutzung von Spyware – mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Begriffen, die versuchen, die Bandbreite an digitaler Gewalt abzubilden. Wichtig dabei: Vor allem eben Menschen, die weiblich oder queer gelesen werden, sind von digitaler Gewalt betroffen! Nicht-weiße oder behinderte FLINTA* sogar noch häufiger. Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) beschreibt digitale Gewalt deshalb auch als
„Oberbegriff für Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet.“
Hate-Speech sind Hasskommentare im Internet, zum Beispiel auf Social Media Plattformen.
Doxing bezeichnet das unerwünschte Veröffentlichen personenbezogener Daten (z. B. Adressen, Telefonnummern).
Spyware bezeichnet heimlich installierte Spionagesoftware auf z. B. Smartphones.
Denn genauso wie sich unsere Leben immer mehr online abspielen, so verlagern sich auch stereotypes Denken, Diskriminierung und eben auch gewaltsame Übergriffe gegenüber FLINTA* immer mehr in die Onlinewelt. Gewalt im digitalen Raum ist daher kein Einzelfall, sondern eher die Folge einer zunehmenden Digitalisierung von bereits bestehender Gewalt. Das große Problem: Die Digitalisierung allerdings macht Übergriffe noch einfacher, anonymer und vor allem allgegenwärtiger.
Sei es der Kontakt zu Familie und Freund*innen, das Lesen von Nachrichten, Onlinebanking oder die Krankschreibung über die Krankenkassenapp – fast alle wichtigen Bereiche unseres Alltags sind mittlerweile digitalisiert und in Form von Apps auf unserem Smartphone gebündelt. Digitale Räume und Medien, als potentielle Orte digitaler Gewalt, tragen wir daher überall mit hin und wir können uns nur schwer ohne erheblichen Nachteil von ihnen lösen. Gerade für Betroffene von digitaler Gewalt besteht daher häufig das Gefühl, sich der Bedrohungen nicht entziehen zu können. Die unbegrenzt schnellen Verbreitungsmöglichkeiten und die fehlende Greifbarkeit von Täter*innen verstärken zudem das ohnmächtige Gefühl, nichts gegen die erfahrene und potentielle Gewalt tun zu können.
Dabei geht es den – meist männlichen – Tätern, genau darum: uns FLINTA* zu verunsichern. Durch das Verbreiten von sexualisierten Inhalten sollen wir uns schämen, durch Bedrohung und Belästigung, meist durch die visualisierte Beschreibung sexualisierter Gewalt, sollen wir Angst bekommen. Zurecht ziehen sich daher immer mehr FLINTA* aus dem digitalen Raum zurück. Doch wo FLINTA* weniger Stimme und Zugang haben, dort können sie auch weniger ihre Interessen und Rechte vertreten. Wie also sollen wir mit digitaler Gewalt umgehen? Im Folgenden geben wir dir dafür paar empowernde Hilfestellungen.
Als Betroffene digitaler Gewalt fällt es uns häufig schwer, zu erkennen, dass es nicht nur uns betrifft und wir in den meisten Fällen nicht die einzigen Betroffenen der Täter*innen sind. Schnell machen wir uns selbst Vorwürfe, weil wir als FLINTA* schon früh mit der Einstellung konfrontiert wurden, an Übergriffen eine Mitschuld zu tragen. Appelle wie „Zieh nicht so einen kurzen Rock an“ oder „Lauf nicht spät allein nach Hause“ werden in Bezug auf digitale Gewalt zu Ratschlägen wie „Na dann lösch doch deinen Instagram-Account“ oder „Selbst schuld, wenn du so ein leichtes Passwort hast“. Sogenanntes Victim Blaming geht dabei auch häufig von zum Beispiel der Polizei oder Freund*innen aus, die eigentlich die erste helfende Anlaufstelle sein sollten. Doch dass Röcke „zu kurz“, die Nacht „zu gefährlich“ und Instagram „zu öffentlich“ sind, ist niemals deine Schuld! Im Gegenteil: Die Schuld liegt ganz allein bei den Personen, die sich entscheiden, Gewalt auszuüben und an gesellschaftlichen Bildern von FLINTA* als z.B. “Sexobjekte”. Lass dir daher nicht einreden, mitschuldig zu sein, denn: Betroffene zu vermeintlichen Täter*innen zu machen, verstärkt nur das Ziel, uns aus dem digitalen Raum zu verdrängen!
Vicitim Blaming wird auch Täter-Opfer-Umkehr genannt, wobei die Schuld bzw. Verantwortung für eine Tat von dem*der Täter*in auf das Opfer abgewälzt wird.
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von hilfreichen Tipps zum Selbstschutz gegen digitale Gewalt (ein paar Anlaufstellen und Tipps findest Du zum Beispiel am Ende des Artikels). Beispielsweise kann eine höhere Aufmerksamkeit für das Thema Datensicherheit (also zum Beispiel durch komplizierte Passwörter, private Accounteinstellungen oder das Ausschalten der Bluetooth-Funktion) potentielle Übergriffe erschweren. Doch auch hier gilt: Es gibt keinen Zwang zum Selbstschutz. Zwar ist das aktuell leider häufig noch die einzige Möglichkeit, sich vor digitaler Gewalt im Netz zu schützen, doch sollte keine betroffene Person sich gezwungen fühlen, nach einem Übergriff aktiv zu werden. Manche wollen den Täter*innen nicht so viel Raum in ihrem Leben geben, manche haben Angst das Ganze nochmal erzählen zu müssen. Und das ist okay. Alle Betroffenen haben das Recht auf Selbstbestimmung.
Damit sind wir auch schon beim nächsten Punkt. Stand together, not against each other! Digitale Gewalt trifft vor allem FLINTA* und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns unterstützen und nicht gegenseitig shamen. Das passiert durch Behörden und das soziale Umfeld meist schon genug. Wenn ihr euch dazu bereit fühlt, dann fragt doch mal in eurem Umfeld, ob anderen Freund*innen sowas auch schon passiert ist – ihr werdet überrascht sein, wie viele, vor allem weiblich gelesene Menschen, eure Erfahrung teilen und vielleicht sind sie euch sogar dankbar, dass ihr das Thema ansprecht. Wir fühlen uns dann nicht mehr so ohnmächtig und gemeinsam fällt es häufig leichter, nach Lösungen zu suchen. Versuche deshalb auch als Ansprechperson für Betroffene ein offenes Ohr zu haben. Das kann im ersten Moment etwas überfordernd sein, aber höre der Person aufmerksam zu und frage: Was brauchst du jetzt? Wie kann ich dich unterstützen? Versuche nicht, die Person zu irgendetwas zu überreden, denn durch die Gewalterfahrung wurde der Person bereits das Gefühl von Kontrolle genommen und es ist wichtig, ihr diese Selbstkontrolle nun wiederzugeben.
Da digitale Gewaltformen sehr unterschiedlich sind, gibt es leider nicht DIE eine Lösung, um sich gegen digitale Übergriffe zu wehren. Aber sich einen Überblick über diese Formen und erste Maßnahmen im Fall eines digitalen Übergriffs zu verschaffen, kann dir helfen, dich wehrhafter zu fühlen, schneller reagieren zu können und auch anderen FLINTA* eine Stütze zu sein. Außerdem kann es helfen, sich mit Freund*innen im Vorhinein schlagfertige Reaktionen, zum Beispiel auf Hasskommentare im Netz, zu überlegen. So können soziale Medien auch Plattformen sein, um sich mutig gegen solche Missstände auszusprechen, das Maß des Missbrauchs offen zu legen, diese gemeinsam zu bekämpfen und sich zu vernetzen.
Auch gibt es mittlerweile einige professionelle Unterstützungsangebote, die dir bei Übergriffen helfen können:
Wichtig ist hier: Du kannst nichts falsch machen oder irgendwo „falsch“ anrufen. Die meisten Unterstützungsangebote für digitale Gewalt sind untereinander gut vernetzt und werden dich im Zweifelsfall an die richtige Stelle verweisen.
Zuletzt bleibt zu sagen: So wichtig es auch ist, uns als Betroffene von digitaler Gewalt gegenseitig zu empowern, Erfahrungen sichtbar zu machen und Hilfsangebote zu schaffen, umso verstärkter müssen wir auch die Täter*innen in den Fokus rücken. Denn: Das Abwälzen der Verantwortung auf die Betroffenen und der gesellschaftliche Druck, reagieren zu müssen, führt dazu, dass Täter*innen wie auch politische Entscheidungsträger*innen und Plattformen weitestgehend inaktiv bleiben können. Und das muss sich ändern!
Lea Wessels
Leoni Vollmar ist Sozialwissenschaftlerin, Pädagogin und Aktivistin.
Mit ihrem Verein Stimmrecht Gegen Unrecht e.V. setzt sie sich für die Selbstbestimmungsrechte von FLINTA* ein. 2020 startete der Verein die Kampagne #toxcimalenet - Erkämpf dir dein Netz zurück!, mit der durch Plakat- und Onlineaktionen auf die genderspezifische Dimension von digitaler Gewalt in der digitalen aber auch analogen Öffentlichkeit aufmerksam gemacht werden sollte.